„Die heutige Wut ist wie eine Zündschnur auf Glasfaser!“
Literaturwissenschaftler Prof. Michael Braun (ESAD), Dr. Jürgen Linden, Stiftungsratsvorsitzender der ESAD, Eva Menasse und Dompropst Rolf-Peter Cremer (v. l.)
Nichts hat das menschliche Zusammenleben so umfassend verändert wie die Digitalisierung. Die permanente Dauervernetzung, Überinformation und Erreichbarkeit beeinflusst, was wir denken und fühlen, sie beeinflusst den Diskurs und die Streitkultur. In ihrem Essay „Alles und nichts sagen“ setzt sich die Schriftstellerin Eva Menasse mit den Herausforderungen der digitalen Massenkommuniaktion für Gesellschaft, Politik und Religion auseinander. Mit kritischem Blick analysiert, hinterfragt und beschreibt sie die vielfältigen Entwicklungen und Auswüchse.
Rund 350 Menschen waren zur gestrigen „Literatur zur Nacht“ in den Aachener Dom gekommen, um Menasses Gedankenwelt analog zu folgen. Die Autorin bezeichnete die Digitalmoderne als „größte Herausforderung für die menschliche Ich-Konstruktion“, die es jemals gegeben habe: „Ungeheure und entgegengesetzte Kräfte wirken darauf ein; solche, die es aufblähen, und solche, die es als bloßen Datenlieferanten in unübersichtlichen Massen verschwinden lassen wollen.“ Zwei unangenehme Eigenschaften des Menschen seien deutlich zutage getreten: Selbstüberschätzung einerseits (das eitle Ich), und übertriebene Ängstlichkeit andererseits.
Umgangsformen in den Sozialen Medien haben auf Politik und Journalismus übergegriffen
Durch den Überfluss an Wissen, Geschwindigkeit, Transparenz und Unlöschbarkeit habe man verlernt, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Stattdessen jage eine Erregungswelle die nächste und lenke von den eigentlichen Problemen ab, die anzugehen wären. Auch in der politischen Debattenkultur erkennt Menasse negative Auswirkungen: Die Umgangsformen in den Sozialen Medien hätten bereits auf Politik und Journalismus übergegriffen. Auch dort würde vielfach nach den neuen, erbarmungsloseren Regeln gespielt. Skandalisierung werde zum Dauerzustand, Details würden zu groß gemacht, doch außer eine gefühlten Empörung bleibe nichts hängen. „Die Wut ist wie eine Zündschnur auf Glasfaser, die heute um die ganze Welt läuft“, sagte die Schriftstellerin. Doch nicht nur diese große Gereiztheit betrachtet Menasse mit Sorge, sondern auch die zunehmende Vereinsamung und soziale Entwöhnung der Menschen in ihren Single-Wohnungen und Homeoffices. „Körperlose Vernetztheit macht unglücklich und aggressiv!“
Europäische Datenschutz-Grundverordnung als regulierendes Instrument
Zustimmendes Kopfnicken war vielfach im Publikum zu vernehmen, zu dem überwiegend Menschen gehörten, die noch das andere, das analoge Leben kennengelernt haben. Und die darum nachvollziehen können, wie umwälzend die Entwicklungen der letzten 10, 15 Jahre waren. Entsprechend dieser kurzen Zeitspanne ordnete Eva Menasse die Digitalmoderne im anschließenden Gespräch mit Literaturwissenschaftler Michael Braun in der Pubertätsphase ein und kam auf den Begriff des Zauberlehrlingsphänomens zu sprechen. „Wir haben etwas geschaffen, das wir nicht kontrollieren können.“ Zum Glück blieb es nicht nur bei Schwarzmalerei. Ausdrücklich lobend erwähnte Eva Menasse die Europäische Datenschutz-Grundverordnung, die in der gesamten Europäischen Union für einheitliche und strengere Datenschutz-Regeln sorge – anders als in den USA, wo es keine vergleichbaren Standards zum Schutz der Menschen gebe.
Zum Thema Künstliche Intelligenz fiel Eva Menasse – zumindest mit Blick auf die Literatur – hingegen nichts Positives ein: „Das sind nur Versatzstücke und Kombinationen von Phrasen, da gibt es nichts Metaphysisches, keinen Assoziationsraum. Komisches, seltsames Zeug wie das von Thomas Mann oder Franz Kafka wird es immer geben!“
In seinen Abschlussworten ermunterte Dompropst Rolf-Peter Cremer dazu, die Welt weiterhin an sich ranzulassen und ins persönliche Gespräch zu gehen. So wie an diesem Abend, an dem der Aachener Dom zum Ort einer geistigen Auseinandersetzung geworden sei. Explizit dankte er der Europäischen Stiftung Aachener Dom für die Ausrichtung der Veranstaltung, deren Ziel es sei, den Europagedanken im Geiste der christlich geprägten Kultur in Kunst, Literatur, Musik und Wissenschaft zu stärken. Nach den Wahlen des vergangenen Wochenendes sei dies wichtiger denn je.